Theodor W. Adorno: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft

Theodor W. Adorno Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft Cover Suhrkamp Verlag

Erschreckend aktuell sind die Vorlesungen von Theodor W. Adorno im Band „Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft“

von Sebastian Meißner

1937 machten die Nazis die Familie Adorno zu „Juden“ und entrechten sie, obwohl sich der Vater Adornos längst hatte protestantisch taufen lassen, die Mutter immer katholisch war und der Sohn Theodor zunächst die Religion der Mutter, dann die des Vaters angenommen hatte. Die Nazis stempelten Adorno als „Halbjuden“ ab und zwangen seine gesamte Familie ins Exil. Auf Einladung von Horkheimer ging Adorno 1938 mit seiner Frau in die USA. Während dieser Zeit erlitten seine Eltern während der antisemitischen Übergriffe der Novemberpogrome 1938 Misshandlungen und wurden verhaftet. Glücklicherweise gelang es ihnen im darauffolgenden Jahr, nach Havanna auszuwandern.

Adorno in New York

Theodor W. Adorno Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft Cover Suhrkamp Verlag

Die Adornos ließen sich zuerst in einer vorübergehenden Wohnung im Greenwich Village in New York City nieder. Später mieteten sie ein Apartment in der Nähe der Columbia University, die dem Institut für Sozialforschung (jetzt unter dem Namen Institute of Social Research) ein Gebäude zur Verfügung gestellt hatte. Das Paar brachte Möbel aus Deutschland mit und richtete sich in der neuen Umgebung ein. Von Anfang an hatten sie zahlreiche private Kontakte und Beziehungen, die ihnen halfen, sich in ihrer neuen Heimat einzuleben.

Theodor W. Adorno, dieser kluge Denker mit Weltruf, kannte sich da längst bestens mit den Regeln der empirischen Sozialforschung aus, vertiefte diese während seiner Zeit im amerikanischen Exil jedoch kontinuierlich. Die Erkenntnisse, die er aus der damals fortschrittlichsten Form dieser Forschungsmethoden gewonnen hatte, beeinflussten auch die Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, das seit 1950 unter der Leitung von Horkheimer stand.

Adorno und die Gesellschaftstheorie

Aber im Gegensatz zu den meisten anderen sozialwissenschaftlichen Einrichtungen, die sich hauptsächlich darauf konzentrierten, ihre empirischen Werkzeuge zu verfeinern, war Adorno immer auch an dem komplizierten Verhältnis zwischen soziologischer Theorie und der Gesellschaft selbst interessiert. Folglich griff er bei der Untersuchung der Bedingungen für eine mögliche Gesellschaftstheorie auf die philosophische Tradition zurück, wie aus den Transkription seiner Vorlesungen aus dieser Zeit zu entnehmen ist. Eine Auswahl daraus legt der Suhrkamp Verlag nun mit diesem Buch vor.

Übergang von Theorie zum Faktum

Adornos Ton in diesen Vorlesungen ist messerscharf. Kenntnisreich und präzise verbindet er erkenntnistheoretische Fragestellungen mit Überlegungen zu Repräsentativität, baut Brücken von Weber zu Marx zu Horkheimer und bleibt bei alledem stets der neugierige Gedankenanstoßer. In der Philosophie gibt es keinen nahtlosen Übergang von den Grundprinzipien des Wissens zur Erscheinung und umgekehrt. Ähnlich verhält es sich in der Soziologie: Es gibt keinen klaren Übergang von der Theorie zum gesellschaftlichen Faktum. Adorno erkannte diese Parallele und zog daher aus der philosophischen Tradition wichtige Einsichten für die Entwicklung einer tragfähigen Gesellschaftstheorie heran. Das zeigt, dass er nicht nur ein Meister der empirischen Sozialforschung war, sondern auch ein Denker, der die Verbindung zwischen Theorie und Praxis in der Gesellschaft gründlich durchdachte.

Die Beziehung der Individuen

Adorno verwendet den Ausdruck eines „emphatischen Begriffs“, der bei ihm eine „emphatische Theorie der Gesellschaft“ repräsentiert. Damit möchte er betonen, dass Gesellschaft zwar nicht wie ein physischer Gegenstand dargestellt werden, aber dennoch nicht einfach willkürlich definiert werden sollte. Er beschreibt vielmehr eine funktionale Verbindung, in der Individuen miteinander in Beziehung stehen. Dieser Zusammenhang geht über die banale Vorstellung hinaus, dass alles mit allem verbunden ist.

Adorno als Mahner gegen den Rechtsradikalismus

Für Adorno ist Gesellschaft die Art und Weise, wie „Einzelmenschen, Einzelinstitutionen und Einzelsituationen“ miteinander vermittelt sind, was es ermöglicht, sie als das zu erkennen, was sie sind. Gesellschaft ist daher nicht einfach die Summe der einzelnen Individuen, sondern vielmehr das, was spezifisch gesellschaftlich ist, liegt im „Übergewicht von Verhältnissen über den Menschen, deren entmachtete Produkte sie gewissermaßen geworden sind“.

Adorno blieb bis zum seinem Tode 1969 ein Mahner gegen den Rechtsradikalismus. Seine Vertreibung aus der Heimat, seine Erfahrungen im Exil wurden Teil seines Denkens. Die hier versammelten Vorlesungen zeigen diesen großen Denker in hellwachem und motivierten Zustand. Gerade heute erschreckend aktuell.

Theodor W. Adorno: „Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft“, Suhrkamp Verlag, Taschenbuch Wissenschaft, 278 Seiten, 978-3-518-30013-8, 25 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)

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